2 · (nicht) loslassen!
»Neeein!«, schrie Kiro, der sich in der Sekunde durch das kaputte Fenster zog, vor Entsetzen.
»Neko!« Er fiel in die Scherben auf dem Boden, ignorierte seine Schmerzen jedoch und sprintete zu ihr.
Als Neko der Kopf schlaff auf die Seite fiel und Kiro somit das scharfzähnige Grinsen dahinter aufblitzen sah, zögerte er keine Sekunde. Er hob in vollem Lauf den Ziegelstein, den er instinktiv noch immer in der Hand hielt und feuerte ihn gezielt in den Spalt hinter ihr. Kiro selbst landete, durch den Schwung des Wurfes, auf allen Vieren. Aus dem Schacht war jetzt ein hallendes, krächzendes Gelächter zu hören. – Hatte er doch nicht getroffen? –
Kiro sprang sofort wieder auf; jetzt eines der herumliegenden alten Bücher in der Hand.
»Lass sie gefälligst los!«, brüllte er das finstere Lachen an.
Es verstummte. »Oder waszzz?«, zischte es dann gehässig.
Kiro stand jetzt nur noch einen Schritt vor den Beiden.
Er holte wütend mit dem Buch aus – ohne dass er wusste, was er da eigentlich tat.
Dann blieb für ihn die Zeit stehen. Nicht sinngemäß, sondern wortwörtlich! Nichts geschah mehr. Nichts bewegte sich mehr. Auch er war in der Bewegung, wie eingefroren. Die Welt um ihn herum verlor ihre Farben. Nur im Augenwinkel schien sich etwas oder jemand zu bewegen.
Eine graue Nebelwolke, die, während sie ständig ihre Form veränderte, zwischendurch auch menschliche Konturen annahm. Gerade saß sie noch in einem der Lesesessel, dann löste sie sich in Nichts auf.
Sie erschien geisterhaft in der Ecke des Raums, war dann wieder verschwunden. Jetzt tauchte sie genau zwischen Kiro und Neko auf. Das gespenstische Wesen blickte zum Flammenkind, dann zu Kiro. Augenscheinlich musterte es sie; vergewisserte sich etwas. Dann hatte es sich scheinbar für eine Form entschieden. Schwammig und immer noch nur zu erahnen, stellte es wohl einen kleinen Mann in Mantel und ins Gesicht gezogener Kapuze dar. Er beugte sich zu Neko und flüsterte:
»Si vis amari, vive!«
Dann gab er ihr einen Kuss auf die Wange.
Er wandte sich an Kiro und sprach zu ihm im selben gedämpften Ton:
»Mors est umbra viatoris!«
Er küsste seine Fingerspitzen und berührte damit Kiros erhobenen Arm. Mit einer seltsam übertriebenen Verbeugung beendete er seinen Auftritt. Schlagartig stob der Nebel auseinander und die Welt bekam ihre Farbtöne zurück.
Neko schlug die Augen auf und fixierte sofort ihren Retter. »Tu es!«
Dann drehte sie sich so weit zur Seite, wie sie konnte.
Kiros Arm fuhr nieder. Und wo eben noch das Buch war, schnitt jetzt die scharfe Klinge eines bläulich schimmernden Kurzschwerts in die Klaue des Exsecutors und trennte sie glatt ab. Die Waffe des Schreibers zerfiel sofort danach zu Staub.
Das Flammenkind landete wieder auf seinen Füßen, die abgetrennte schwarze Kralle noch in ihrem Leib. Den einsetzenden Schmerzensschrei des Wesens hinter ihr unterbrach sie umgehend. Sie schoss herum, griff mit einer Hand in die Dunkelheit und zerrte den noch immer geschockten Verfolger, an der Kehle gepackt, an den Spalt.
Sein Schreien unterdrückte sie zu einem erstickenden Gurgeln. Die Kraft, die ihr ihre rasende Wut verlieh, ließ sie seinen Kopf nun immer wieder von innen gegen die Tür hämmern, während sie ihn anbrüllte.
»Du beschissenes Miststück! Warum willst du mich töten? Wer hat dich geschickt?! Was hast du mit meiner Schwester gemacht?! Rede!«
Jetzt ergriff sie ihn auch mit der anderen Hand. Mit einem mächtigen Ruck riss sie ihr schuppiges Opfer durch die Fahrstuhltür, die jetzt verbogen aus den Schienen sprang. Sie drückte ihn zu Boden.
Kiro, immer noch von der Situation überwältigt, hielt dem sich windenden Wesen geistesgegenwärtig die noch verbliebene Hand fest. Verhinderte damit, dass auch noch die andere Kralle zum Einsatz kam. Er starrte auf die drei Finger. Der mittlere war überproportional lang und gebogen. Wie eine Sichel, nur mit Messerscharfen Widerhaken. Wie der, den er in Nekos Körper stecken sah und aus dem ihr eine grünlich schwarze Flüssigkeit auf den Rücken tropfte.
Neko saß auf der Brust des nun wehrlosen Monsters. Seine Kehle mit beiden Händen umschlungen.
»Rede, hab ich gesagt!«
Zwischen seinem Röcheln waren nur ein paar einzelne Worte zu verstehen: »Lux. – Dra'ák ...«
»Erzähl mir keine Märchen! Rede!« Sie lockerte widerwillig den Griff.
»... Wahr-heit ... Dra'ák für Lux ... Suchen! Vollstrecker ...«
Im Gegensatz zu Kiro verstand Neko zwar, wovon er da stammelte, aber wurde auch nicht schlau daraus.
»Es gibt keine Lux. Das sind bloß Ammenmärchen! Lügner! Warum willst du mich töten?«
»... Lux – Krieg. Nicht ich – Legion! Wir sind viele ... Trachten ...«
»Nach was sucht ihr denn? Nach mir?«
»Bist unwichtig! Kein Kern – unwichtig! Trachten nach Haut. Lux trachten.« Dann steigerte er sich wieder in dieses heisere Lachen.
Neko hatte scheinbar genug gehört. Sie kam seinem Gesicht mit ihrem jetzt ganz nah. Ihr gefährliches Grinsen war dem seinen nun erschreckend ähnlich. Sie blickte ihm tief in die leeren Augenhöhlen und fauchte ihn mit fest zusammengebissenen Zähnen an:
»Serva auch trachten! Gib deinen Lux das hier von mir!«
Sie drückte jetzt so fest zu, dass sie dabei immer wieder die Luft anhielt; dann schwer keuchte; noch immer dieses breite Lächeln im Gesicht.
»Geh weg, Kiro Janko!«
»Was ... Was tust du da, Neko?«
»Lass – ihn – los, sage ich!«
Kiro tat, was sie ihm befahl. Er verspürte jetzt mehr Angst vor ihr als vor der Schwarzschuppe.
Das Flammenkind spannte seinen ganzen Körper an. Es legte den Kopf weit in den Nacken und schrie aus vollem Hals! Ihre Hände fingen an zu glühen. Immer heller! Die explosionsartige Hitzewelle, als das dunkle Wesen in Flammen aufging, traf Kiro völlig unvorbereitet.
Wenige Sekunden später war alles vorbei.
»Ki-ro?« Aus der Stimme der Kleinen war jeglicher Zorn verflogen. Sie klang dünn und schwach. Sie hockte, auf die Hände gestützt, in den verkohlten Überresten, aus denen immer noch einige Flammen züngelten. »Kiro ... mach bitte das Ding aus mir raus, ja?«
Er zögerte lang, ging dann aber zu ihr und auf die Knie.
»Wie soll ich das machen? Ich kann nicht. Wir müssen es drinnen lassen und dich in ein Krankenhaus bringen! Verdammt, warum ...
»Du vergisst ..., dass ich kein Mensch bin. Zieh es einfach raus. Mir geht's dann gleich wieder gut. Du wirst sehen. Meine Kraft ist doch zurück.«
Sie lächelte, sichtlich gequält von Schmerzen. »Die Wunde glüht doch von allein aus. Bitte ... zieh's nach vorne raus. Okay?«
Kiro vertraute ihr. Er zog sich rasch das T-Shirt aus, riss es in zwei Hälften und wickelte es um seine Hände. Dann packte er die messerscharfe Spitze und sah sie zögernd an.
»Sicher?«
Neko stemmte sich mit beiden Händen gegen seine Schultern.
»Sicher!«
»Also gut. Zehn, neun, acht, ...«
»Willst du mich verarsch...«
»Null!«, unterbrach er sie und zog das Stück schnell heraus.
»...schschscheiße! Tut das weh! Fuck! Du Arsch! ...«, fluchte sie und krallte sich jetzt in Kiros Schultern!
»Ähm, Neko? Sagtest du nicht was von ›glüht aus‹? Ist das normal?«
Sie sah nun auch auf das Loch in ihrer Brust. – Kein Glühen.
Stattdessen blutete eine dickflüssige grünschwarze Substanz aus ihr hervor. »Das ... sollte nicht ... so sein ...« Ihre Lider fielen müde zu.
Kiro bekam die nächste Panikattacke. Er spürte, wie ihr Griff sich löste. Ihre Stirn sank langsam an sein Brustbein. Er schüttelte sie. »Bleib wach verdammt! Ich bring dich hier weg! Hörst du? Ich ... irgendwie ...
Ich finde eine Lösung! Ja?« Dann stopfte er ihr panisch die beiden
T-Shirt-Stücke in die Wunden.
»Mir ist ... arschkalt ...« Sie klang, als würde sie immer weiter davondriften.
»Ich bin gleich wieder da!« Er schnellte hoch, eilte zum Fenster zurück und sprang nach draußen. Aus einer der Tüten, die er vor dem Gebäude zurückgelassen hatte, schnappte er sich den neuen Pullover und hangelte sich schnell wieder nach drinnen.
»Hier! Gib mir deine Arme!« Ohne jedoch eine Antwort von ihr abzuwarten, zog er ihr so schnell es ging den Pulli an. »Hab dir vorhin ganz vergessen zu sagen, dass sie den in deiner Größe nur noch in weiß hatten. Aber Das Schaf ist das gleiche. Siehst du?« – Sie konnte es nicht sehen. – »Halt durch! Bitte! Ich bring dich jetzt zu mir!«
Kiro trug sie zum Türspalt, legte sie dort ab und sprang wieder aus dem Fenster. Sie von außen hier hindurchzuziehen, war sicherer als das Risiko, mit ihr zu springen. Er schwang sich ihre schlaffen Arme über die Schulter und hob sie hoch. Sie mit beiden Armen fest umklammert, rannte er so schnell er konnte nach Hause. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte; wusste nicht, ob er sich wünschen sollte, dass seine Eltern schon zurück wären; wusste aber, dass er Hilfe brauchte!
* * *
Völlig von seinen Kräften verlassen, legte er sie sanft auf sein Bett.
Seine Eltern waren noch nicht wieder da. Neko hatte die Augen immer noch geschlossen. Atmete langsam. Sehr langsam. Als würde sie tief schlafen. Nur wusste er, dass das in so einem Zustand nicht gut war. Sein Herz pumpte laut. Mit einem leicht unangebrachten Gefühl von Genugtuung ohrfeigte er sie. Beide Wangen! Es half nicht viel. Ihre Augen blieben zu. Sie fing aber an zu murmeln:
»... kalt ...«
Kiro ratterten Unmengen an Möglichkeiten durch den Kopf, wie er sie aufwärmen konnte. Er rannte durch die ganze Wohnung, um „die Lösung" zu finden. Im Bad drehte er den Hahn der Badewanne auf, um sie mit heißem Wasser zu füllen, bevor er sofort einsah: »Ja, genau! Kiro, du bist so clever! Dieses feueraffine Wesen mit Wasser am Brennen zu halten ...«
Mit einem Arm voller Hitze-erzeugender Haushaltsgeräte bewaffnet kam er wieder ins Zimmer und breitete alles auf dem Boden aus. Warum er den Toaster, den er jetzt wütend beiseitetrat, mitgenommen hatte, verstand er auch nicht.
»Neko!« Er setzte sich aufs Bett und versuchte sie noch etwas wacher zu bekommen. »Ich versuch es mit Hitze, okay? Sag mir, was ich tun soll!« – Keine Antwort. Nur unverständliches Gemurmel. – Seit er Neko vorhin in den Flammen sah, konnte er sich denken, dass Feuer oder Hitze für sie das Richtige sein musste. Bevor er allerdings seine verzweifelten Versuche starten konnte, musste er noch eines tun.
Er zog ihr rasch den dicken Pullover aus.
Diese dunkle Flüssigkeit war bereits durch ihr Shirt gedrungen und um die Wunde stark verkrustet. Als er die Stelle vorsichtig berührte, bemerkte er, dass sie aber nicht einfach getrocknet, sondern vielmehr gefroren war.
Wie erstarrter Teer und eiskalt.
Sein erstes Werkzeug stand fest.
Mamas teures Bügeleisen musste dran glauben.
Als es endlich die Betriebstemperatur der höchsten Stufe erreicht hatte, hoffte er inständig, dass er mit seiner Vermutung richtig lag und ihr keinerlei Form von Hitze etwas ausmachen konnte. Dann drückte er kurz und schmerzlos das Eisen auf die Stelle knapp unter ihrer linken Brust.
Es zischte und stank bestialisch, aber es sah so aus, als würde es funktionieren. Die erhärtete Stelle schien wieder flüssig zu sein.
Jetzt musste das T-Shirt weg. Er riss es mit beiden Händen entzwei.
Das schwarze Zeug lief ihr geschmolzen in alle Richtungen über ihren nackten Oberkörper. Immer wieder nahm er das Bügeleisen zur Seite und wischte die verflüssigten Teile einfach mit seiner Bettdecke weg. Neko begann währenddessen immer schneller zu atmen. Als er das Stück Stoff aus der Wunde entfernte, öffnete Neko langsam wieder die Augen.
»Mach weiter, ... Kiro.«
»Funktioniert es? Spürst du was? Was soll ich tun? Sag es mir bitte!
Ich weiß nicht wie ich ...«
»Mach mich ... einfach heiß. Du musst ... mich auch innen ... heiß machen.«
Kiro hielt ihr Papas Lötkolben vor das Gesicht. »Ich mach dir die Wunde damit sauber. Aber du musst dich umdrehen. Ich muss erst deinen Rücken frei machen.«
Kiros Hand, die sich bereits unter sie schieben wollte, wurde von ihr aber mit einem energischen Schlag abgewehrt. »Nein! Ich ... ich glaube, ich weiß einen Trick. Gib mir das Ding ... was du rausgezogen hast.«
»Das habe ich doch nicht mitgenommen!«
»Damit ... kann man das Dra'ák-Blut wieder wegbekommen. Du ... musst es holen!«
»Ich kann dich doch nicht alleine lassen! Was ist, wenn ...«
»Das musst du aber, wenn du mir helfen willst! Lass mir einfach das Glüh-Ding da ... Das hilft ein bisschen ... Ich werd' schon nich abhauen. Versprochen!« Sie zwang sich zu lächeln.
»Okay. Ich werde es holen. Aber allein lassen, werde ich dich ganz bestimmt nicht!« Kiro warf den Lötkolben auf den Nachttisch und tauschte ihn gegen sein Handy. Kontakte, T, anrufen.
...
»Ja?«
»Komm schnell rüber! Ich ... Eine Freundin braucht dringend deine Hilfe!«
»Ich mach mir aber grad Pizza. Ich komm dann so in ...«
»Nein, jetzt! Ich hab dich schon lange um nichts mehr gebeten, oder? – Bitte! Es ist verdammt wichtig!«
»Musst mich ja nich anschreien. Schon gut. Bin gleich da.«
Zwei Minuten später führte Kiro ein Mädchen in sein Zimmer.
»Ich muss jetzt dringend was holen! Ich erklär dir alles später. Oder sie tut's in der Zwischenzeit. Ich beeile mich. Bin in einer halben Stunde wieder da. Danke dir nochmal. – Tausend Mal!
– Achso!
Neko, das ist Tessa.
Tessa – Neko.«
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»Si vis amari, vive!«
[Willst du geliebt werden, lebe!]
» Mors est umbra viatoris!«
[Der Tod ist der Schatten des Wanderers!]
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